Wenn in der „Süddeutschen Zeitung“ über einem Kommentar die Überschrift „Deutschland, Land der Schützen“ (Paywall) prangt, dann sollte man davon ausgehen, dass es in dem Meinungsartikel aus der Feder von Ronen Steinke auch um Schützen geht. Es geht aber um die Polizistenmorde bei Kusel, es geht um Behördenversagen und um Gesetze, die nicht greifen. Nur nicht um „Schützen“.
Deutschland ist nicht Texas, man bekommt hier Gewehre nicht im Supermarkt.
Aber auch der deutsche Staat geht mit den tödlichen Waffen, die hierzulande in Umlauf sind, erstaunlich lässig um.
Zunächst einmal der genau so überflüssige wie obligatorische Fingerzeit Richtung „amerikanische Verhältnisse“, mit der man die Leser schon mal in die richtige Stimmung versetzt, gefolgt von einer Behauptung, die im späteren Kommentarverlauf nicht belegt wird. Kein Bezug zur Überschrift.
Bei dem Mann, der im rheinland-pfälzischen Kusel eine Polizistin und einen Polizisten erschossen
haben soll, lag ein Arsenal von nicht weniger als 19 kleinen und größeren Schusswaffen in der Wohnung, darunter eine doppelläufige Schrotflinte und ein Jagdgewehr. Wie ist das möglich? Die Behörden hatten doch schon vor zwei Jahren entschieden, dieser Mann dürfe keine Waffen
mehr besitzen, weil er gefährlich sei.
Zwar stellt der Redakteur hier eine berechtigte Frage, aber damit sollte man vielleicht warten, bis die Ermittlungen der Polizei abgeschlossen sind und über die Herkunft der Waffen Klarheit herrscht. Ob die Waffen wegen einer unterlassenen Durchsetzung des geltenden Rechts beim mutmaßlichen Polizistenmörder verblieben oder ob die illegal beschafft wurden. Ebenfalls kein Bezug zur Überschrift.
Die Antwort: Es war einfach. Die Verbote, die in den USA fehlen, gibt es in Deutschland zwar. Aber die Kontrollen, die solche Verbote unterlegen müssen, fehlen oft. Im Land der Schützenfeste, der Jagdgesellschaften und der Skisportler, die mit Langwaffen feuern („Biathlon“), haben Verfassungsschützer vor einer Weile mal mühevoll recherchiert, wie viele einzelne Waffenbehörden versuchen, die Kontrolle zu behalten. Sie kamen auf die hohe, für niemanden mehr sinnvoll zu überblickende Zahl von 600. Bei Kommunen, bei Polizeipräsidien, bei Bundesländern, überall sind verschiedene Beamte zuständig für das Erteilen oder Entziehen von Waffenerlaubnissen.
Erneut werden die „amerikanischen Verhältnisse“ thematisiert. Allerdings dieses Mal derart klischeehaft, dass man davon ausgehen muss, dass es dem Herrn Steinke völlig unbekannt zu sein scheint, dass es in den USA gar kein einheitliches Waffengesetz gibt. Ganz abgesehen davon, dass regelmäßig die US-Bundesstaaten bzw. Metropolen mit den restriktivsten Gesetzen und meisten Verboten die mit den meisten Schusswaffentoten sind.
Noch grotesker wirkt die Behauptung, dass „Verfassungsschützer“ vor einer Weile „mühevoll“ die Anzahl der Waffenbehörden recherchieren mussten. Diese Zahl stand schon vor zehn Jahren, als das „Nationale Waffenregister“ mit viel Tamtam beschlossen und umgesetzt wurde, in fast jeder Zeitung. Und genau wegen dieser großen Anzahl weitestgehend nicht vernetzter Behörden wurde dieses viel gepriesene Bürokratiemonster doch erst geschaffen. Vielleicht hätten die „Verfassungsschützer“ einfach mal beim NWR nachfragen sollen, anstatt „mühevoll zu recherchieren“? Die haben sogar eine Homepage…
Außer der Erwähnung von „Schützenfesten“ erneut kein Bezug zur Überschrift.
Da herrscht mal mehr, mal weniger Vorsicht. Die klare gesetzliche Vorgabe, wonach nur „zuverlässige“, also gesetzestreue Leute eine Waffenerlaubnis erhalten dürfen, nimmt der eine Beamte ernster, der andere lockerer. Mal genügt ein kurzer Hinweis des Verfassungsschutzes, dass jemand in rechtsextremen Kreisen unterwegs ist, schon wird ihm der Waffenschein entzogen. Mal kann der Nachrichtendienst 18 Seiten lange Gutachten übermitteln und eindringlich vor einem sogenannten Reichsbürger warnen. Und es ändert sich trotzdem nichts.
Der rechtliche Rahmen ist da, die Gesetze sind bzgl. der „Zuverlässigkeit“ und „persönlichen Eignung“ ziemlich eindeutig. Es mag sein, dass es vielleicht irgendwo eine legere Auslegung des Waffengesetzes gibt. Die Regel dürfte dies aber nicht sein, eher wird viel zu restriktiv gegen den Erlaubnisinhaber vorgegangen, dessen persönliche Eignung oder Zuverlässigkeit angezweifelt wird. Am Ende entscheiden oft Gerichte über die Rechtmäßigkeit eines Widerrufs und auch oft genug gegen die Behörde.
Erneut viel Allgemeinplätze, erneut kein Bezug zur Überschrift.
Erst seit 2020 werden Menschen, die neu eine Waffenerlaubnis beantragen, routinemäßig mit den Datenbanken des Verfassungsschutzes abgeglichen. Das ist ein Fortschritt, das trifft aber nicht die vielen Menschen, die schon vor 2020 eine Waffe besaßen und sich in den vergangenen Jahren
radikalisiert haben. Der vernünftige Vorschlag des ehemaligen Innenministers Horst Seehofer, dass Leute, die eine Waffenerlaubnis beantragen, außerdem ein psychologisches Zeugnis zeigen müssen, ist zuletzt am Unwillen der Jägerlobby in der Unionsfraktion im Bundestag zerschellt.
Nein, nicht nur die Menschen, die „neu“ eine Waffenerlaubnis beantragen, werden vom Verfassungsschutz geprüft. Diesen gigantischen Aufwand betreibt man spätestens nach drei Jahren im Rahmen der Regelüberprüfung bei jedem der ca. eine Million Erlaubnisinhaber. Also ungefähr 330.000 pro Jahr, 900 pro Tag. Die hunderttausende Besitzer von „Kleinen Waffenscheinen“ sind da übrigens noch gar nicht berücksichtigt. Das Ganze bei einer Missbrauchsquote von legal besessenen, erlaubnispflichtigen Schusswaffen von 0,001 Prozent, vielleicht eine von 10.000. In jedem anderen Lebensbereich zählt das als vernachlässigbares Risiko.
Die Frage, ob es nicht vielleicht sinnvoller wäre, Personen deren Verfassungstreue in Zweifel steht, sofort auf mögliche waffenrechtliche Erlaubnisse zu prüfen und ggf. sofort zu widerrufen und die Waffen einzuziehen, stellt man erst gar nicht. Statt dessen findet man verdachtsunabhängige Massenüberprüfungen toll, bei dem ein möglicher Verfassungsfeind im schlimmsten Fall erst nach drei Jahren im Rahmen der Regelüberprüfung als Erlaubnisinhaber identifiziert wird. Warum auch einfach, wenn man es genau so gut extrem kompliziert machen kann? In diese Richtung geht auch die Sympathie des Herrn Steinke für ein „psychologisches Zeugnis“. Da muss man ihm aber ausnahmsweise zustimmen. Allerdings nicht, weil dies außer Aufwand und Kosten irgend einen auch nur annähernd positiven Einfluss auf die Innere Sicherheit hätten. Nein, einfach deshalb, weil Menschen, die sich freiwillig als Jäger oder Sportschützen einer staatlichen Dauerüberwachung unterziehen, Grundrechte zum Teil preisgeben müssen und obendrein noch öffentlich angefeindet werden, irgendwie nicht „normal“ sein können. Und, business as usual, wieder ein Absatz ohne „Schützen“-Bezug.
Es gibt in Deutschland kein Register, in dem alle Schießstände verzeichnet wären. Auch dort geht es mal strenger, mal lockerer zu, manche Schießstände verlangen von ihren zahlenden Kunden nicht einmal einen Ausweis, es genügt schon die Angabe eines Fantasienamens. So können selbst
Menschen, die mit einem Waffenverbot belegt sind, mit Waffen trainieren.
Auch hier wird vom Staat nur schwach kontrolliert. Das liegt auch daran, dass in vielen Kommunen hinter dem Wort „Waffenbehörde“ nur eine einzige Person steckt: ein Mensch, der beim Ordnungsamt arbeitet.
Ja, so ein Schießstandregister wäre wirklich toll, schon alleine im Urlaub…
Aber das ist natürlich nicht gemeint. Es wird aber auch nicht erläutert, was genau an diesem nicht existenten Register so schlimm ist. Mangels konkreter Kenntnis von Verfehlungen sollen statt dessen nebulöse Formulierungen den Eindruck erwecken, dass Schießstände anrüchige Orte, bevölkert von zwielichtigen Gestalten wären. Hausordnung? Schießstandordnung? Standzulassung? Sportordnung? Ob der Kommentarverfasser selbst jemals einen Schießstand von innen gesehen hat? Eher nicht. Aber das passt auch zur sonstigen, sehr theoretischen und wenig realitätsbezogenen Vorstellungen, wie es auf Schießständen zugeht und wie Personalien erfasst werden. Selbst wenn der Personalausweis im Original vorliegt, wie soll denn die Person bei der Anmeldung erkennen, ob gegen den Gast ein Waffenverbot verhängt wurde? Vielleicht ein obligatorischer Anruf bei der Ortspolizeibehörde, die dann, zur Freude jedes Landesdatenschutzbeauftragten, telefonisch persönliche Daten von Dritten an Dritte weitergibt? Und das Abends oder am Wochenende? Unterm Strich sollen Schießstände stärker kontrolliert werden, weil es in der Steinke’schen Gedankenwelt, nicht aber in der schnöden Realität ein Problem mit Schießständen gibt. Auch für diesen Absatz wieder Null Punkte für „Schützen“-Bezug.
Im Fall des mutmaßlichen Polizistenmörders in Kusel war es so: Er hatte jahrelang mit verschiedenen kleinen Jagdbehörden zu tun, mal bei dieser Kommune, mal bei jener. Als er negativ auffiel, reichte es irgendwann für eine Entziehung der Waffenerlaubnis, mit anderen Worten: für ein paar strenge Briefe an seine Adresse. Worte. Für mehr reichte es leider nicht.
Spoileralarm: Wieder kein Bezug zur Überschrift.
Aber im letzten Absatz nähert sich der Autor endlich dem tatsächlichen Problem: Dem Nicht-Vollzug bestehender Gesetze.
Leider ist man bei der „Süddeutschen“ und anderen Erzeugnissen der sog. Leit- und Qualitätsmedien so sehr auf die Diffamierung von Jägern und Sportschützen in Deutschland bzw. der ritualisierten Anprangerung „amerikanischer Verhältnisse“ fixiert, dass man weit davon entfernt ist, zur Abwechslung einmal die richtigen Schlüsse aus identifizierten Problemen zu ziehen. Vielleicht könnte man ohne ideologische Scheuklappen selbst bemerken, dass in den Behörden nicht nur der allgemeine Personalmangel den Gesetzesvollzug be- oder gar verhindert. Die Sachbearbeiter werden gezwungen, sich die meiste Zeit mit den Akten von unbescholtenen Waffenbesitzern zu befassen, weil ihnen der Gesetzgeber immer mehr genau so überflüssige, wie zeitaufwändige Kontrollen auferlegt hat.
Nicht noch mehr, sondern weniger, aber dafür auch vollzogene Gesetze würden die Behörden entlasten und tatsächlich die Sicherheit im Lande erhöhen. Doch das wäre ja zu vernünftig für einen paranoiden Gesetzgeber und eine obrigkeitsgläubige Medienlandschaft.
Titelfoto: Screenshot https://www.sueddeutsche.de/meinung/waffenrecht-polizisten-mord-kusel-1.5526136